Aphantasie: Stell dir vor, du kannst dir nichts vorstellen..

Stephanie
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16.7.23
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Psychologie

Was erkennst du, wenn du deine Augen schließt? Wahrscheinlich erstmal gar nichts außer der Farbe Schwarz.

Nun versuche, dir das Gesicht deiner besten Freundin ins Gedächtnis zu rufen. Kannst du dich daran erinnern, wie es aussieht und es vielleicht sogar direkt vor dir sehen? Ihre Augen, ihre Nase? Ihren Mund, wenn sie lacht? Ihre gerunzelte Stirn, wenn sie misstrauisch ist? Schaffst du es, ihr Gesicht vor deinem geistigen Auge zu visualisieren? Vielleicht nicht in Details, vielleicht fehlen ein paar Aspekte, aber du kannst es dir vorstellen?

Menschen, denen das nicht gelingt, leben mit einer Form von sogenannter Aphantasie.

Vielleicht hast du schon einmal davon gehört oder kennst sogar jemanden in deinem Bekanntenkreis: Menschen, die vor ihrem geistigen Auge keine Bilder entstehen lassen können, erleben den Zustand der sogenannten Aphantasie oder “geistiger Blindheit”. Wie vieles, was unser Innenleben betrifft, ist so ein Zustand schwer zu beschreiben – also nochmal umso schwerer zu erforschen.

Was du hier erfährst

1 Woher kommt der Begriff “Aphantasie”?

2 Wie fühlt sich Aphantasie an?

3 Leben mit Aphantasie: Wo kann man sich austauschen?

4 Exkurs: Illusion der Transparenz

Woher kommt der Begriff “Aphantasie”?

Das erste Mal offiziell verwendet wurde der Begriff der Aphantasie im Jahr 2015 – das ist noch gar nicht so lange her – von Prof. Adam Zeman, einem Kognitions- und Verhaltens-Neurologen an der University of Exeter.

Im Jahr 2003 hatte ein Patient nach einer Herzoperation plötzlich seine Fähigkeit verloren, sich Bilder vorstellen zu können, die er davor immer deutlich vor seinem inneren Auge gesehen hatte. Seine Träume hätten sich völlig verändert, sein Vorstellungsvermögen beim Lesen war quasi nicht mehr vorhanden.

Dieser Fakt des Verlustes der Visualisierung wurde daraufhin in die Welt getragen und stieß – verständlicherweise – auf viel Interesse. 2009 kamen neue Erkenntnisse von Bill Faw vom Brewton Parker College in Georgia dazu, wo man 2.500 ProbandInnen befragt hatte, von denen ca. 2 Prozent während der Tests angaben, keinerlei oder nur dürftige visuelle Vorstellungskraft zu besitzen (Faw 2009).

Im Jahr 2010 veröffentlichte Zemans Team daraufhin schließlich seine erste Studie dazu, die sich vorrangig an der Geschichte des plötzlich mit geistiger Blindheit geschlagenen Herzoperations-Patienten anlehnte (Zeman, Della Sala, Torrens, Gountouna, McGonigle, Logie 2010.) Die Story wurde direkt vom Discovery Magazine aufgegriffen und veranlasste daraufhin viele Menschen mit ähnlichen Wahrnehmungen dazu, sich bei diversen Forschungsinstitutuionen zu melden.

Anhand eines Fragebogens namens “Vividness of Visual Imagery Questionnaire (VVIQ)” und eines weiteren auf der “Eye’s Mind”- Website der University of Exeter, den bis zum Jahr 2015 über 700 – und mittlerweile mehrere tausend Personen – ausgefüllt haben, vermutet man, dass Faws Studie wohl repräsentativ gewertet werden kann.

Das heißt, dass ca. 2 Prozent der Weltbevölkerung mit Aphantasie leben.

Wie kann es überhaupt passieren, dass wir diesen Zustand so lange noch nicht entdeckt hatten? Ist Aphantasie wirklich so schwer zu erkennen – oder ist es eher der Fall, dass Menschen einfach nie im Detail über die Dinge sprechen, die sich in ihrem Kopf abspielen? Warum denken wir nie darüber nach, wie andere denken?

Die Suche nach dem Ursprung des Begriffs Aphantasie führt uns in das Jahr 1880. Damals beschäftigte sich der englische Statistiker Francis Galton bereits mit der Fähigkeit der bildhaften Fantasie und fand heraus, dass es wohl verschiedene Stufen von Vorstellungskraft gibt, unter anderem den der geistigen Blindheit.

Um die Stufen zu klassifizieren, entwickelte er eine Fragestellung, anhand derer sich die Probanden (100 erwachsene Männer) ein Bild von ihrem Frühstückstisch vorstellen sollten. Danach sollten sie beschreiben, inwieweit sie die Details vor ihrem geistigen Auge abrufen konnten.

Wenn du Lust hast, kannst du das auch einmal ausprobieren.

  1. Beleuchtung. – Ist das Bild schwach oder ziemlich klar? Ist seine Helligkeit mit der der tatsächlichen Szene vergleichbar?
  2. Definition. – Sind alle Objekte gleichzeitig ziemlich gut definiert, oder ist der Ort der schärfsten Definition zu einem bestimmten Zeitpunkt kontrahierter als in einer realen Szene?
  3. Farben. – Sind die Farben des Porzellans, des Toasts, der Brotkruste, des Senfs, des Fleisches, der Petersilie oder was auch immer auf dem Tisch gewesen sein mag, ziemlich deutlich und natürlich?

Auch damals wurde bereits festgestellt: 12 seiner Probanden konnten ihm zum Thema Frühstück nicht viel sagen: Sie waren bis dahin der Auffassung gewesen, dass der Ausdruck, „mentale Bilder zu erzeugen”, nur metaphorisch verwendet wurde. Zudem waren sie nicht in der Lage, sich Erinnerungen, wie einen Ausflug oder gar die eigene Hochzeit, bildlich vor Augen zu rufen, konnten aber trotzdem oft wiedergeben, was damals dort passiert war (Galton, 1880).

Wie fühlt sich Aphantasie an?

„Die Welt in meinem Kopf ist nicht bunt wie die, die ich mit meinen Augen sehen kann. Sie ist dunkel, meistens schwarz, aber keineswegs tot. Es ist einfach so, als könnte ich nicht mehr zurückspulen, nachdem ich etwas erlebt habe. Das gilt für Bilder wie für Lieder oder Diskussionen. Formen, Farben oder Gesichter sehe ich keine und das Wort “visualisieren” habe ich noch nie verstanden. Ich dachte immer, sowas sei nur so dahingesagt.“

Diese Beschreibung ihrer Innenwelt kommt von einer Werbetexterin, die mit ihren Worten ja vorrangig Bilder in den Köpfen anderer Menschen entstehen lassen soll. Dass sie mit einer Form der Aphantasie lebt, hat sie erst realisiert, als sie eine Diskussion in einem reddit-Forum dazu gelesen hat. Laut Betroffenen ist es sehr schwierig, ihre Denkprozesse anderen zu erklären, die sich das nicht im Ansatz vorstellen können. (Kendle, 2017).

Auch einer der Firefox-Gründer Blake Ross hat erst verhältnismäßig spät erfahren, dass er sich wohl zu den Menschen mit geistiger Blindheit zählt. Er hat das genauer beobachtet, sogar seinen Bekanntenkreis zu subjektiver Vorstellung eines Strandes befragt und die Ergebnisse in einem Essay veröffentlicht.

So geschockt er auch zuerst von seiner Erkenntnis war, würde er Aphantasie trotzdem nicht als einen Zustand beschreiben, an dem man “leidet”, immerhin sind sich die meisten Menschen dessen gar nicht oder lange nicht bewusst. Streng genommen “fehlt” ihnen auch nichts, sie nehmen ihre Umwelt und ihr Innenleben einfach anders wahr, ohne dabei direkt etwas zu vermissen.

POLL! Close your eyes & picture an apple. Using the guide below, how clear (1=vivid, 5=nothing) is the image in your mind?#aphantasia #hyperphantasia #journo #iamwriting #education #edutwitter
*Pls RT. *Comments welcome 🙂 pic.twitter.com/oGEOFe20hk

— Andy vT 🙋🏼♂️ (@AndyvT101) July 28, 2019

Leben mit Aphantasie: Wo kann man sich austauschen?

Du findest dich in den beschriebenen Studien und Erzählungen vielleicht wieder und glaubst, Aphantasie betrifft auch dich?

Die Website “The Aphantasia Network” beschäftigt sich mit Fragen und Antworten rund um das Phänomen. Dort können sich Betroffene wie auch Interessierte rund ums Thema austauschen und informieren. Falls du dir Gedanken darüber machst, ob Aphantasie dein bisheriges Leben negativ beeinflusst hat – auch hierzu gibt es auf der Seite immer mehr Informationen, Berichte und neue Erkenntnisse.

Obwohl die Wissenschaft in der Hinsicht noch viel Arbeit leisten muss, geht man davon aus, dass Prozesse wie Lernen und Kreativität nicht zwingend unter einer fehlenden Visualisierung leiden. Es wurde bereits 1880 von Galton festgestellt, dass die Vorstellungskraft des Gehirns mithilfe einer Magnetresonanztomographie gemessen werden kann und dass sich, beispielsweise bei geistigen Rotations-Rätseln, Menschen mit weniger ausgeprägtem bildlichem Denken einfach anderer Prozesse bedienten, um die Aufgabe zu lösen (Galton, 1880).

Wir müssen uns vor der Schlussfolgerung hüten, dass das Fehlen von Fähigkeit A wahrscheinlich zum Fehlen von Fähigkeit B führt, da Fähigkeit A (mentale Bilder erzeugen) Fähigkeit B (Leseverständnis) verbessern kann. Wie wir wissen, ist dies einfach nicht der Fall beim Lernen immer der Fall.(…) Das Lesen von Noten kann Ihre Fähigkeit verbessern, das Klavierspielen zu lernen. Wenn Sie jedoch keine Noten lesen können, bedeutet dies nicht, dass Sie nicht lernen können, Klavier zu spielen.
(Kathyrn Bates, BOLD-Artikel von 2019)

Bates Aussage kann so gewertet werden, dass unterschiedliche Voraussetzungen möglicherweise unterschiedliche Lern- und Denk-Strategien bedingen, aber trotzdem zum selben Ziel führen können.

Und das bestätigen auch Berichte von Betroffenen. Sogar einige bekannte MalerInnen, LogikerInnen und Schachspieler gaben an, ihre Gedankengänge nicht in Bildern abrufen zu können.

Außerdem gibt es immer mehr Untersuchungen dazu, dass Individuen beim Wahrnehmen einer komplexen Szene viel mehr Eindrücke verarbeiten, als sie wiedergeben können. Das heißt, dass eine rein bildhafte Wiedergabe also keineswegs widerspiegelt, dass Personen mit besserer Visualisierung mehr wahrnehmen als diejenigen mit Aphantasie (D’Aloisio-Montilla, 2017).

Besonders interessant ist auch die Verbindung von Bildern zur Sprache. Da manche Menschen bei sich feststellen, unabhängig von ihrer Vorstellungskraft keinen inneren Monolog zu “hören”, also kein “Gespräch mit sich selbst zu führen”, wurden auch in diese Richtung bereits Untersuchungen durchgeführt.

In einer Verhaltens- und fMRI-Studie wurden beispielsweise die Zusammenhänge von verbalem und visuellem Denken beleuchtet und dabei wurde festgestellt, dass innere Sprache relativ unabhängig von der geistigen Erstellung von Bildern funktioniert. Und: Viele Individuen haben trotzdem einen Zugang zu visueller Vorstellung, auch wenn sie sehr viel verbal denken. (Amit, Hoeflin, Hamzah, Fedorenko, 2017)

Es gibt übrigens auch einen gegenteiligen Zustand zur Aphantasie: EidetikerInnen, sind Menschen, die eine derart starke Vorstellungskraft besitzen, dass sie Situationen genauso detailliert wie in ihrer Wahrnehmung visualisieren können.

Exkurs: Illusion der Transparenz

„Es war mir bis dahin absolut nicht klar, dass offenbar die meisten Menschen tatsächlich „innere Bilder“ produzieren und sich Dinge, Ereignisse, Menschen bildhaft vorstellen können. Einige können sogar Geräusche, Töne, Stimmen und Gerüche im Inneren produzieren. Für mich ist das wie eine Superpower! Genauso interessant und genauso unglaublich. Es scheint aber eher zur Mehrheit zu gehören.“

Eine Betroffene

Theoretisch sind wir uns ja im Klaren darüber, dass das Innenleben jedes Einzelnen von uns ein völlig subjektives sein muss. Immerhin sind wir alle individuelle Wesen mit unterschiedlichen Ansichten, Empfindungen und Beobachtungen.

Unsere Realität, die wir in jedem Moment wahrnehmen, ist das Ergebnis unzähliger Faktoren, die uns – nur uns – persönlich ausmachen. Damit erschaffen wir das, was wir im Endeffekt als “Wirklichkeit” wahrnehmen. Trotzdem erachten wir es oft als gegeben, dass wir alle dasselbe sehen. Das führt zu vielen Missverständnissen und mangelndem Verständnis beim Gegenüber und hat sogar einen Namen: die Illusion der Transparenz.

Hast du dir wirklich bewusst schon einmal die Frage gestellt, wie es wäre, wenn du plötzlich merkst, dass du die Welt in deinem Inneren wirklich völlig anders siehst als andere Menschen?

Die Schwierigkeit in der Forschung liegt bei der Individualität unserer Wahrnehmung. Wenn du schon einmal versucht hast, eine Gefühls-Kombination oder einen kreativen Gedankenprozess ganz genau zu beschreiben, wird dir aufgefallen sein, wie schwierig das ist. Unser Innenleben verhält sich so komplex und subjektiv, dass es oft die Grenzen unserer Sprache sprengt.

Wie viele innere Phänomene wohl noch entdeckt werden könnten, wenn sich die Leute immer mehr darüber austauschen würden, dass es solche überhaupt gibt?

Im Ansatz kann man einen Fortschritt auf Social Media-Plattformen beobachten: Hast du schon einmal ein Childhood-Flashback-Meme gesehen und dir gedacht, “wow, genauso habe ich das als Kind auch empfunden, ich dachte, ich wäre damit allein?” Wenn wir die Dinge und Prozesse in unserem Innenleben beobachten, sie benennen und darüber sprechen, werden wir sie vielleicht irgendwann besser verstehen können.

Möglicherweise hast du jetzt in der Krisenzeit ja einmal die Gelegenheit, deine Gedankengängen mal nicht nur einfach so hinzunehmen, sondern sie auch einmal zu analysieren. Besonders gut funktioniert das bei Methoden und Techniken, wo du dich mit Ruhe und Fokus auf dein Innenleben konzentrierst und achtsam und aufmerksam auf die Signale achtest, die dir gesendet werden.

Ein guter Zugang kann beispielsweise Meditation sein, um eine bessere Verbindung zu deinem Körper herzustellen – vielleicht erfährst du dabei sogar noch etwas Neues und Spannendes über dein Innenleben und lernst dich so selbst besser kennen.